Mit Europa im Gespräch

„Die Bundesstaatlichkeit – auch ein Modell für die EU?“ – Diskussionsveranstaltung mit Experten in der Hessischen Landesvertretung

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„Wir müssen diskutieren, wo Europa künftig stärker gemeinsam handelt und in welcher Struktur dies geschehen soll“. Mit diesen Worten skizzierte Lucia Puttrich, Hessische Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten, in der Einführung ins Thema den Kern der Fragestellung einer Podiumsdiskussion, die am 4. Mai im Rahmen der Europawoche in der Hessischen Landesvertretung in Berlin stattfand.

Menschen Europa näher bringen

In ihrem Grußwort würdigte Europaministerin Puttrich den Anlass des Treffens: „Die Europawoche ist ein geeigneter Zeitpunkt, um den Menschen Europa näher zu bringen. Deshalb führen wir hessenweit Veranstaltungen durch und tauschen uns über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Europäischen Union aus.“ Die Aufgaben der EU hätten sich seit der Gründung wesentlich verändert. Eine Herausforderung sei beispielsweise das Thema Energie. Die flächendeckende Versorgung aller Mitgliedsstaaten könne nur durch eine europaweite Zusammenarbeit erfolgen. Weitere Diskussionspunkte innerhalb der EU seien Fragen zur Migration und Zuwanderung. Staatsministerin Puttrich betonte daher, dass es zur Bewältigung dieser Herausforderungen gegenseitiges Verständnis sowie gemeinsamer Lösungen bedarf. Die Ministerin fuhr fort, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der auf die Zerstörung der Ukraine als unabhängiger freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat ziele, deutlich mache, dass europäische Handlungsfähigkeit schneller und stärker denn je gefordert sei. Infolgedessen sei zu diskutieren, inwieweit bundesstaatliche Lösungen ein Modell für die EU sein könnten, auch um zu klareren und verantwortlicheren Entscheidungen zu kommen.

Notwendige Schritte

Fachleute aus vier EU-Staaten fassten in einer Podiumsdiskussion jeweils aus ihrer Sicht die jetzt in der EU notwendigen Schritte zusammen. Unter Moderation des österreichischen Journalisten und Buchautors Ewald König diskutierten Pavo Barišić, Generalsekretär der Internationalen Paneuropa-Union und ehemaliger Minister für Wissenschaft und Bildung der Republik Kroatien, Peter Müller, Richter des Bundesverfassungsgerichts und früherer Ministerpräsident des Saarlandes, sowie Janusz Reiter, ehemaliger Botschafter Polens in Deutschland und den USA.

Stärkung der europäischen Öffentlichkeit

Generalsekretär Barišić erinnerte daran, dass die Paneuropa-Union die älteste noch existierende Organisation sei, die sich bereits seit 100 Jahren, seit 1922 die Einheit Europas zum Ziel setze. Die „historische Gemeinschaft Europa“ müsse weiter ausgebaut werden. Er warb für eine Stärkung der europäischen Öffentlichkeit und sah in den Empfehlungen der „Konferenz zur Zukunft Europas“ einen wichtigen Ansatzpunkt, um über die künftige europäische Integration zu diskutieren.

Rechtliche Aspekte

Bundesverfassungsrichter Müller stellte zunächst die Rechtslage dar, sowohl aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts wie auch der Sicht der EU-Verträge. Das deutsche Grundgesetz sei zwar europafreundlich ausgestaltet, die europäischen Institutionen würden jedoch nach deutschem Verfassungsrecht auf der Grundlage des „Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung“ tätig, also nicht im Sinne eines Bundesstaates. Solange das Grundgesetz gilt, kann Deutschland einem europäischen Bundesstaat nicht beitreten. Das sei nach deutschem Verfassungsrecht nur durch eine Volksabstimmung möglich. Auch die EU-Verträge enthielten keine bundesstaatlichen Bestimmungen. Das sei nach deutscher Auffassung die derzeitige Rechtslage, auch wenn der EuGH diese bisweilen anders sehe. Als Bürger und ehemaliger Politiker halte er einen europäischen Bundesstaat für schwer definierbar, ein solcher werfe viele Fragen auf, es sei, wenn überhaupt, ein langfristiger Prozess, bei dem die Demokratie nicht der Verlierer sein dürfe. Denn das europäische Parlament sei derzeit kein richtiges Parlament, das den Bürgern der EU-Staaten ein gleiches Stimmrecht garantiere. Der deutsche Verfassungsrichter warb für ein Europa der Vielfalt, das auch Raum für nationale Vielfalt ermöglichen müsse.

Bewältigung von Krisen

Der ehemalige Botschafter Januz Reiter sah angesichts der aktuellen Lage den Frieden und die Demokratie in Europa existentiell herausgefordert. Es fehle heute das Gefühl, dass „wir ein gemeinsames Ziel haben“, stellte Janusz Reiter in den Raum. Er glaube daran, dass „Geschichte von Ereignissen angetrieben wird“, aber es müsse Menschen geben, die auf diese Ereignisse vorbereitet sind. Dieses Glück habe Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gehabt. Es hätte Menschen gegeben, die Chancen ergriffen hätten. Heute müsse Europa mit multiplen Krisen umgehen. Die größte Krise sei der Krieg gegen die Ukraine. Dieser Konflikt hätte eine Dimension, um wieder etwas Neues in Europa zu wagen. Die Vision könne jedoch nicht von oben, sondern müsse von den Menschen kommen. In den nächsten Wochen und Monaten stelle sich die Frage: „Wächst die Autorität der Europäischen Union oder nicht? Die Antwort darauf entscheidet sich in der Außen- und Sicherheitspolitik“, so der frühere Botschafter. Institutionelle Fragen in der EU seien zunächst zweitrangig. „Wenn in Europa etwas verändert wurde, war dies immer das Ergebnis einer kollektiven Erfahrung“, erläuterte Reiter.

Nachhaltiger Dialog

Auf die zugespitzte Frage des Moderators nach der Zielvorstellung für die Einigung Europas befürwortete Barišić die Beachtung der Vorschläge der Zukunftskonferenz - wie etwa den Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen und eine größere Rolle des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik sowie eine Stärkung der europäischen Institutionen. Müller betonte die „Besonderheit dieser Europäischen Union“, die heute schon deutlich tiefer integriert sei als alle Staatenbünde in Geschichte und Gegenwart. Die EU als Projekt vom Reißbrett durch die Europäische Kommission oder das Europäische Parlament durchzusetzen, werde nicht funktionieren, das gehe nur durch intensiven, nachhaltigen Dialog. Die Frage, ob eine bundesstaatliche Lösung das Ziel sei, bleibe daher unbeantwortet. Reiter sah den Anspruch als riskant an, die Zielvorstellung der Ausgestaltung Europas zu definieren. „Europa kann nicht einen Staat bei der Lösung seiner nationalen Probleme ersetzen“, stellte Reiter fest. Zudem sprach er sich für eine weitere enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten aus. Einig waren sich alle Teilnehmer, die Problematik von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in Europa klar und deutlich zu benennen, aber unbedingt eine Lösung im Dialog zu finden.

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