Es diskutierten auf Einladung der Hessischen Europaministerin Lucia Puttrich die EU-Korrespondenten Viktor Daněk vom tschechischen Radio, Ilze Nagla vom lettischen Fernsehen, Tomasz Bielecki, von der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza, und Lorenzo Robustelli, Herausgeber von EUnews (Italien), mit Michael Stabenow, dem ehemaligen EU-Korrespondenten der Frankfurter Allgemeine Zeitung. Schwerpunkte der Diskussion waren die russische Invasion der Ukraine und die Folgen für die Energiesicherheit der Europäischen Union.
19. Juli 2022
XVIII. Europäischer Presseclub: „Die EU im Krisen- und Kriegsmodus“
Alternativen zur Abhängigkeit von russischem Gas
Nicht genug Gas für die EU – eine gewaltige Aufgabe! Es ist bereits das zweite Mal nach 2009, dass sich die tschechische EU-Ratspräsidentschaft mit Fragen der Gaslieferungen aus Russland befassen muss, sagte Viktor Daněk. Damals ging es um den Bau von Nord Stream I und auch um die negative Bewertung aus osteuropäischer Sicht. Es gibt im Moment jedoch viel Bewegung. Lettland kann in ein bis zwei Jahren völlig unabhängig von russischem Gas sein und baut Alternativen auf, erklärte die lettische Journalistin Ilze Nagla. Polen hat eine kritische Haltung zum „Fit für 55-Klimapaket“, ist aber andererseits wahrscheinlich bereit, doch zu verhandeln, berichtete Tomasz Bielecki. Reich an Kohle, aber nicht an Gas, habe Polen sich bereits weitgehend von russischem Gas „verabschiedet“. LNG-Terminals für Gaslieferungen aus anderen Ländern seien in Polen und Litauen in der Planung.
Für Italien in der EU stellte Lorenzo Robustelli fest, dass die Beziehung zu Russland zwiespältig sei. Von Regierungsseite wurden die EU-Sanktionen gegen Russland befürwortet, sie werden auch durchgesetzt. Er führte weiter aus, die italienische Wirtschaft sei stark abhängig von russischem Gas und werde in Zukunft auf Zulieferungen aus anderen Staaten angewiesen sein. Viktor Daněk betonte, dass es vor allem wichtig sei, dass die EU-Mitliedstaaten nicht untereinander konkurrieren, keine politische Spannungen aufbauen und es zu fairen Vereinbarungen zur Verteilung von zukünftigen Gaslieferungen, auch von außerhalb der EU, kommt. Solidarität in dieser Frage müsse ein europäisches Ziel sein. Es sollte keine Konkurrenzsituation geben, die die Preise für die Mitgliedstaaten in die Höhe treiben könnte. Am 20. Juli werde die Kommission eine Mitteilung veröffentlichen, wie diese Herausforderungen bewältigt werden können und ob es möglich ist, vereint vorzugehen wie bei den Impfstoffen.
Kritik gegenüber der deutschen Politik von den europäischen Nachbarn
Ilze Nagla beschrieb die lettische Stimmung gegenüber Deutschland als eine „Wir-haben-es euch-ja-gesagt“ - Haltung. Die Deutschen hätten vorsichtiger sein und die Folgen der Abhängigkeit von Russland sehen sollen. Trotz NATO-Zugehörigkeit fühlten sich die Letten als kleines Land an einer Grenze mit Russland nicht sicher. Zudem sei die deutsche Position der Bevölkerung nicht klar, auch im Hinblick auf Waffenlieferungen. Robustelli sah den Bau von Nord Stream II als größten Fehler Deutschlands in seiner führenden Rolle in der EU an, da das Land sich damit zu stark an Russland gebunden habe. Die neue deutsche Regierung wirke zögerlich und treffe keine klaren Entscheidungen, sagte der italienische Journalist weiter. Aus seiner Sicht müsse Deutschland aktiv an der Lösung der europäischen Energiekrise mitwirken und sich nicht zum Teil des Problems machen. Die Situation in Italien nach Mario Draghis Rücktritt sei unklar. Voraussichtlich würden die rechtsextremen Parteien sehr stark werden, wenn es zu Neuwahlen käme. Frankreich hingegen habe zwar eventuell weniger Probleme, die Regierung Macron werde jedoch politische Kompromisse eingehen müssen. Bei der Abhängigkeit von Gaslieferungen gebe es Ungleichgewichte in der EU, sagte Daněk. Er betonte, dass Tschechien zu einhundert Prozent von russischem Gas abhängig sei und das Land aus geografischen Gründen keine Möglichkeit für einen Bau von LNG-Terminals habe. Diese Unterschiede haben aus seiner Sicht ein hohes Gewicht in der politischen Diskussion um Solidarität. Ziel des tschechischen Ratsvorsitzes sei es, vor allem die Solidarität aufrechtzuhalten. Eine Lösung sei ein gemeinsamer Gaseinkauf. Eine Situation mit unterschiedlich gefüllten Gasspeichern in den Mitgliedstaaten sei politischer Zündstoff. Bei allen Reibungen und Unterschieden müsse es eine europäische Zusammenarbeit geben, unterstrich auch Ilze Nagla.
Aufnahme der Ukraine in die EU
Aus Brüsseler Sicht war die Einschätzung in der Runde ein „JA“. Die Dauer der Verhandlungen lägen bei zehn bis fünfzehn Jahren und mehr, sagte Robustelli. Die ukrainische Bevölkerung sollte sich aber im Klaren darüber sein, was mit diesen Verhandlungen noch auf sie zukommt. Keiner wisse, was nach Wolodymyr Selenskyj kommen könnte. Aktuell sehe man eine Pro-EU-Bewegung in der Ukraine und pro-europäische Nichtregierungsorganisationen, die sich für eine starke Demokratie einsetzen. Aber was passiert nach dem Krieg und wann und wie kann er überhaupt beendet werden, fragte Robustelli. Viktor Daněk sah hingegen nicht nur eine pro-EU-Bewegung in der ukrainischen Gesellschaft, sondern ein stärkeres Zusammenrücken der Nation mit einer eigenen Sprache und einer eigenen Geschichte.