Zu der Veranstaltung hatten der Belgische Rundfunk (BRF), die Vertretung der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Brüssel und die Hessische Landesvertretung eingeladen.
Vollumfänglich bekannt seien die komplexen Strukturen in Belgien den Deutschen nicht, meinte der Buchautor Christoph Driessen zu Beginn der Veranstaltung. So sei Belgien kein bevorzugtes Reiseziel der Deutschen, die deutschen Medien vermittelten eher ein im Sprachenstreit gespaltenes Land mit chaotischen und langen Regierungsbildungen. Und die Stadt Brüssel werde in erster Linie mit der Europäischen Union verbunden und nicht als Hauptstadt des Königreiches Belgien wahrgenommen.
Oliver Paasch, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, hob in seinem Grußwort insbesondere die Komplexität der Verfassungsarchitektur Belgiens hervor. Diese habe historische Gründe. Auch Paasch bestätigte, dass Belgien gelegentlich als „chaotischer“ Staat eingeordnet werde, der kaum regierbar erscheine. Tatsächlich sei aus seiner Sicht aber das Gegenteil der Fall. In Belgien sei es immer wieder gelungen, drei sehr unterschiedliche Kulturgemeinschaften auf eine friedliche Art und Weise unter einem Dach zu vereinen. Belgien habe es diesen Kulturgemeinschaften ermöglicht, auf der einen Seite in einem Bundesstaat solidarisch zusammenzustehen und auf der anderen Seite die jeweilige Identität und Kultur zu erhalten und zu leben, so Paasch. Er wagte die Prognose, dass Belgien auch nach den letzten Wahlen im Mai 2019einen „belgischen Kompromiss“ finden werde, um eine Regierung zu bilden.
Das „Belgische System“ zu erklären, sei schwierig. Selbst die belgische Bevölkerung hätte Schwierigkeiten damit, sagte der BRF-Journalist Olivier Krickel im anschließenden Gespräch mit Christoph Driessen. Wenn man das Land erkläre, werde häufig ein politischer Ansatz gewählt. Er selbst betrachte hingegen die Historie. Driessen, der in seinen Ausführungen die Geschichte Belgiens skizzierte, hob hervor, dass die Historie des Landes komplizierter sei, als die Geschichte anderer Staaten. Belgien sei in seiner jetzigen Form ein „junger“ Staat - jedoch mit einer langen Tradition. Die Region Flandern habe unter den verschiedenen Herrschaftshäusern der Burgunder, der österreichischen und spanischen Habsburger zeitweise im Süden bis in das heutige Nordfrankreich hineingereicht; im Norden bis weit in die Niederlande und im Westen grenzte sie an die deutschen Fürstentümer und Länder. Er erinnerte daran, dass Flamen und Wallonen eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte hätten. Im Mittelalter sei Belgien neben Oberitalien die reichste und fortschrittlichste Region in Europa gewesen. Gent sei Mitte des 16. Jahrhunderts mit 64.000 Einwohnern größer als London gewesen, während Köln die größte deutsche Stadt nur auf 45.000 Einwohner kam. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung Flanderns habe damals in Städten gelebt und Brügge sei zu dieser Zeit die reichste Handelsmetropole Nordeuropas gewesen.
Einen Sprachenstreit hätte es im 14./15. und 16 Jahrhundert in Flandern jedoch im Vergleich zu heute nicht gegeben. In dem gesamten Gebiet wurde Französisch, Niederländisch und Deutsch nebeneinander gesprochen. Trotz der schwierigen Verhandlungen für eine Föderalregierung sieht Driessen kein Auseinanderbrechen des belgischen Staates. Er wünscht sich vielmehr, dass das Land mit seiner vielfältigen und großen Geschichte auch vom Ausland entsprechend wahrgenommen wird.
Das Gespräch wurde aufgezeichnet und wird zu einem späteren Zeitpunkt über den BRF ausgestrahlt.