Europa nach den Wahlen: Vorgezogene Parlamentswahlen in Bulgarien

Kein Ende in Sicht? Es sei sehr gut möglich, dass aus diesen Neuwahlen erneut keine stabile Regierung hervorgeht, sagte Desislava Apostolova vom Bulgarischen Nationalen Fernsehen im Gespräch mit Ingrid Steiner Gashi vom KURIER am 3. Oktober in der Hessischen Landesvertretung in Brüssel.

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Zum vierten Mal in nur eineinhalb Jahren haben die bulgarischen Bürgerinnen und Bürger die 240 Mitglieder der bulgarischen Nationalversammlung am 2. Oktober neu gewählt. Politische Stabilität im Land scheint dennoch nicht in Sicht. Die Mehrheitsverhältnisse lassen den Schluss zu, dass es sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich sein werde, eine Regierung zu bilden. Apostolova glaubt daher, dass es erneut zu Neuwahlen kommen könnte. Die extrem niedrige Wahlbeteiligung mit nur 37,8 Prozent deuten auf eine Krise der Demokratie in Bulgarien hin. Sieben Parteien werden nach Auszählung 99,84 Prozent der ausgezählten Stimmen in das neue Parlament einziehen. Die Partei „Es gibt ein solches Volk (ITN)“ von Slavi Trifonov, die im Juli 2021 stärkste Kraft mit mehr als 24 Prozent der Stimmen wurde, hat mit 3,83% den Sprung ins Parlament nicht geschafft. Die Wahlhürde liegt bei vier Prozent.

Ingrid Steiner Gashi vom österreichischen KURIER hat die Veranstaltung moderiert
Ingrid Steiner Gashi vom österreichischen KURIER hat die Veranstaltung moderiert

Die Mitte-Rechts-Partei „Bürger für die europäische Entwicklung (GERB)“ des ehemaligen Ministerpräsidenten (2017), Bojko Borissow, wurde mit 25,36 Prozent der Stimmen stärkste Kraft. Die Reformpartei „Wir setzen den Wandel fort (PP)“ des ehemaligen Ministerpräsidenten Kyril Petrov, der die Wahlen im November 2021 gewonnen hatte, liegt nun mit 20,2 Prozent der Stimmen auf Platz zwei. Die „Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS)“, die in erster Linie die Interessen der türkischen Minderheit vertritt, kommt mit 13,71 Prozent der Stimmen auf Platz drei. Die DPS habe bei der Regierungsbildung immer eine Rolle gespielt, führte Apostolova weiter aus. Sie könne die bulgarischen Türken, eine wichtige Minderheit, nicht nur in Bulgarien selbst, sondern auch in der Türkei und im Ausland, mobilisieren. Man vermutet, dass sie eine zentrale Rolle bei der Regierungsbildung spielen könnte, betonte Desislava Apostolova. Einen der größten Erfolge bei diesen Wahlen hatte die antieuropäische, rechtsextreme und prorussische Partei „Wiedergeburt“, deren Stimmenanteil sich mit 10,17 Prozent mehr als verdoppelt hat. Die „Sozialistische Partei (BSP)“, die lange Zeit die größte Fraktion im Parlament gewesen sei, belegte bei den Wahlen mit nur 9,31 Prozent den fünften Platz. An vorletzter Stelle der ins neue Parlament gewählten Parteien liegt „Demokratisches Bulgarien (DB),“ die sich leicht verbessert hat und nunmehr mit 7,45 Prozent der Stimmen auf Platz sechs. Sie ist ein Zusammenschluss aus Mitte-Rechts- und grünen Parteien und zieht in der Regel Wähler mit höherer Bildung und/oder im Ausland lebende Wähler an. Das Schlusslicht 4,63 Prozent bildete die neu gegründete prorussische Partei „Bulgarischer Aufstieg (BW)“ des ehemaligen geschäftsführenden Ministerpräsidenten Stefan Janew, die auf Anhieb mit 12 Sitzen ins Parlament einzieht.

Sitzverteilung im neuen bulgarischen Parlament
Sitzverteilung im neuen bulgarischen Parlament

Die GERB erhält 67 Sitze im Parlament bei einer Gesamtzahl von 240. Sie werde, so Apostolova, die Unterstützung von mindestens zwei weiteren Parteien für eine Mehrheit im Parlament benötigen. Die DPS mit 36 Parlamentssitzen sei ein möglicher Partner, auch wenn diese Koalition nicht genügend Sitze für eine Mehrheit auf sich vereinen wird, sagte die bulgarische EU Korrespondentin weiter. Daher sei davon auszugehen, dass sich die GERB wahrscheinlich auch an die „Sozialistische Partei (BSP)“ wenden müsse, die 25 Sitze im Parlament erhält. Bislang habe sich der Parteivorsitzende der GERB Bojko Borissow nicht öffentlich geäußert.

Ingrid Steiner Gashi und Desislava Apostolova im Gespräch
Ingrid Steiner Gashi und Desislava Apostolova im Gespräch

Im Gespräch mit Ingrid Steiner-Gashi, zeigte Apostolova unter anderem verschiedene Szenarien auf. Zum einen könnte das Ergebnis zu einer weiteren Wahlrunde führen, der fünften innerhalb von zwei Jahren, meinte Apostolova. Zum anderen könnte auch eine neue geschäftsführende Regierung eingesetzt werden, die von Präsident Rumen Radev ernannt wird. Laut Apostolova wäre eine Regierungsbildung wahrscheinlicher, wenn Borissow abtritt. Dann könnten sich die beiden Parteien, GERB und PP, möglicherweise auf eine Koalition einigen. Borissow gilt als Freund des ungarischen Regierungschefs Orban. Dennoch schätzt Apostolova ihn als proeuropäisch ein. An eine Koalition zwischen Borissow und Orban im Europäischen Rat glaubt sie daher nicht. Ihrer Meinung nach suche Borissow nach einem guten Verhältnis mit der Europäischen Union, unter anderem wegen der dringend benötigten EU-Fördermittel. Rückendeckung für Borissow kam aus der europäischen Volkspartei. EVP-Fraktionschef Manfred Weber war im Wahlkampf nach Sofia gereist, um Borissow zu unterstützen.

Wie geht es weiter? Die im Parlament vertretenen Parteien erhalten drei Anläufe, eine Regierung zu bilden, erläuterte Apostolova. Präsident Rumen Radev dürfte der GERB nach der Konstituierung des Parlamentes das erste Mandat zur Regierungsbildung erteilen. Sollte die Regierungsbildung scheitern, dürfte wohl im Frühjahr 2023 erneut gewählt werden. Die zweitstärkste Partei PP „Wir setzen den Wandel fort“ weigert sich, eine Regierung mit GERB zu bilden.

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