„Die beiden liberal-konservativen Oppositionsbündnisse SPOLU und PIRATI&STAN haben bei der Parlamentswahl in Tschechien überraschend zusammen eine klare Mehrheit der Sitze (108 von 200 Sitzen) im Abgeordnetenhaus errungen. Das liberal-konservative Parteienbündnis SPOLU hat die meisten Stimmen (27,79 Prozent) erhalten, die populistische Partei ANO mit ihrem Regierungschef Andrej Babiš liegt knapp hinter SPOLU auf Platz zwei mit 27,12 Prozent, die Parteienallianz Pirati&STAN kommt stimmenmäßig mit 15,62 Prozent an dritter Stelle und an vierter und letzter Stelle folgt die rechtsextreme Partei SPD mit 9,56 Prozent, führte Viktor Daněk weiter aus. Bemerkenswert sei, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Tschechischen Republik aufgrund der 5-Prozent-Hürde weder die kommunistische noch die sozialdemokratische Partei im Abgeordnetenhaus vertreten ist. Der jetzige Regierungschef Babiš braucht also neue Koalitionspartner, um eine mehrheitsfähige Regierung zu bilden. Bislang will aber keiner mit ihm und seiner Partei zusammenarbeiten. Die Situation in Tschechien nach dem Wahlergebnis sei völlig offen und erinnere an die Parlamentswahlen in Bulgarien, die in diesem Jahr zum dritten Mal stattfinden, sagte Europastaatssekretär Mark Weinmeister. Das Parteienspektrum in Tschechien habe sich verändert. Selbst wenn der amtierende Regierungschef Babiš mit der Regierungsbildung beauftragt würde, wie will er eine mehrheitsfähige Koalition bilden? Fragen, die uns in Deutschland als unmittelbarer Nachbar besonders interessieren, so Weinmeister.
Wem wird der Staatspräsident den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen?
Für die Regierungsbildung gibt es eine mehrheitsfähige Koalitionsmöglichkeit von „SPOLU+ Pirati&STAN“. Die tatsächliche Regierungsbildung könnte sich jedoch wegen des angeschlagenen Gesundheitszustands von Staatspräsident Miloš Zeman verzögern, sagte Daněk. Laut Verfassung müsse Zeman, ein enger Vertrauter des ANO-Vorsitzenden und Regierungschefs Andrej Babiš, den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen, erklärte der EU-Korrespondent. Wahrscheinlich würde er Andrej Babiš, den Vorrang geben. Sollte sich der Gesundheitszustand von Zeman weiter verschlechtern, könnte es Wochen oder sogar Monate dauern, bis ein neuer Regierungschef ernannt werden kann. Dem wolle der Senat entgegenwirken, sagte Daněk. Um die Regierung abzulösen, kann nach Artikel 66 der Verfassung der amtierende Präsident für handlungsunfähig erklärt und ein Stellvertreter für die Regierungsgeschäfte benannt werden. Miloš Vystrčil, der Vorsitzende des tschechischen Senats, versuche schon seit längerer Zeit, eine Untersuchung des Gesundheitszustands von Miloš Zeman zu erwirken, bislang jedoch ohne Erfolg. Nun soll ein weiterer Versuch gestartet werden. Für die Inkraftsetzung von Artikel 66 ist eine Mehrheit sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat erforderlich. Aus Sicht des EU-Korrespondenten könne sich auch ein solches Verfahren aber hinziehen.
Fernsehkorrespondentin im WDR-Studio Brüssel, Gudrun Engel, im Gespräch mit Viktor Daněk
Die Entwicklung der Parteien in einer neuen Regierung könnte schwierig werden, sagte Viktor Daněk. Der Wahlkampf wurde, auch vor dem Hintergrund der Skandale um die Person Babis, zuletzt in Verbindung mit den „Pandora-Papers“, in erster Linie um Personen geführt und nicht um inhaltliche Themen. Viele Fragen und Probleme aus der Sicht der Bürger, wie die immer wieder verzögerte Rentenreform, das marode Gesundheitssystem, die Wohnungs- und Baupolitik, die steigenden Energiepreise oder auch die zunehmende Staatsverschuldung, seien im Wahlkampf von den Parteien nicht öffentlich thematisiert worden. Alle diese schwierigen inhaltlichen Debatten müssten jetzt in Verbindung mit einer Regierungsbildung nachgeholt werden, betonte Daněk. Das bedeute eine große Herausforderung für die insgesamt fünf Parteien, die in ihren Wahlbündnissen die Mehrheit der Sitze im Parlament stellen. Er unterstrich, dass deshalb für eine neue Koalitions-Regierung ein erheblicher Druck zu Kompromissen und minimalen politischen Lösungen eines kleinsten gemeinsamen Nenners entstehen könnte. Er bezweifelte, dass Tschechien eine große politische Transformation bevorsteht. Nach seiner Einschätzung sei eine solche Veränderung von der Mehrheit der tschechischen Bevölkerung auch nicht gewünscht.
Auswirkungen eines Regierungswechsels auf die EU-Ebene
Die Migrationspolitik der EU sei eine dieser offenen Fragen, mit denen sich die künftigen Regierungsparteien auseinandersetzen müssen. Die Babiš-Regierung habe die Visegrad-Gruppe in ihren Positionen zur EU-Migrationspolitik unterstützt und sich politischen Positionen Ungarns und Polens angenähert. Viktor Daněk hielt eine grundsätzliche Änderung der tschechischen Migrations- und Asylpolitik aber nicht für wahrscheinlich. Von den beiden Wahlbündnissen seien bisher keine Aussagen zur Änderung der Migrationspolitik gekommen. Er erwartet auch keine Begeisterung in der Frage der Einführung des Euro oder der schnelleren Bekämpfung des Klimawandels. Im Hinblick auf die Übernahme der Vorbereitung der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft ab 1. Juli 2022 sei eine schnelle Regierungsbildung wichtig.