[Anrede]
Manchmal sind es die leisen Töne, die uns besonders tief bewegen. Manchmal reichen auch nur wenige Worte, um eine ganz große menschliche Haltung zu zeigen. Und manchmal ist es gerade das, was selbstverständlich scheint, was alles andere als selbstverständlich ist. Das ist das, was Margot Friedländer uns gelehrt hat.
„Ich möchte leben.“
„Ich möchte leben.“ Dieser kurze Satz, den wir eben im Film gehört haben, hat mich sehr berührt und er berührt mich immer wieder, wenn ich ihn höre. Es ist ein ganz einfacher Satz, der aber in einer wirklich furchtbaren Prägnanz vor Augen führt, dass Margot Friedländer während der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten eben nicht leben konnte.
Sie konnte keine unbeschwerte junge Frau sein. Sie durfte keine Wünsche haben. Sie durfte keine Träume haben. Sie durfte keine Hoffnungen haben. Sie durfte keine Gefühle haben. Sie musste überleben.
Es ist ihr gelungen, aber als Einzige in ihrer Familie. Und sie hat ihrem Überleben einen Sinn gegeben – nicht für sich, sondern für die Millionen Menschen, die nicht überlebt haben. Und auch für uns, für uns, die wir heute und in Zukunft Verantwortung tragen.
Margot Friedländer hat ihr Überleben zu einer Botschaft gemacht, zu einer bleibenden Botschaft an uns alle: Seid Menschen.
Demokratie braucht überzeugte Demokratinnen und Demokraten
Unsere Verfassung ist seit 79 Jahren ein Fundament, ein Fundament unserer lebendigen, unserer stabilen Demokratie. Sie ist das Fundament für unser Leben in Frieden und Freiheit. Sie ist das Fundament für ein klares und umfassendes „Nie wieder“: Nie wieder dürfen Menschen Opfer von Ausgrenzung, Verfolgung oder Gewalt werden – was sie erlebt haben und was sie waren im Nazi-Deutschland. Nie wieder dürfen sie ihrer Würde beraubt werden – derer sie im Nazi-Deutschland beraubt worden sind. Nie wieder dürfen Menschen Objekte staatlichen Handelns werden – die sie im Nazi-Deutschland gewesen sind.
Aber auch das will ich sagen: Selbst das stabilste Fundament trägt nur dann, wenn es Menschen gibt, die dieses Fundament verteidigen und stärken. Genau aus diesem Grund verleihen wir die Wilhelm-Leuschner-Medaille, die höchste Auszeichnung unseres Landes. Wir verleihen sie ganz bewusst am heutigen Hessischen Verfassungstag.
Aber: Eine geschriebene Verfassung ist das eine. Es reicht aber nicht nur aus, Werte aufzuschreiben, sondern Werte müssen gelebt werden. Diese Werte müssen insbesondere auch im Alltag gelebt und vorgelebt werden. Sie müssen unsere Haltung prägen und unser alltägliches Handeln prägen.
Unsere Demokratie braucht überzeugte Demokratinnen und Demokraten.
Genau ein solcher Demokrat war Wilhelm Leuschner. Er ist für seine Überzeugungen verfolgt, inhaftiert und gefoltert worden. Doch auch mit Verfolgung, mit Haft und Folter haben sie eines nicht geschafft: Sie haben es nicht geschafft, seine Persönlichkeit zu brechen. Ganz im Gegenteil: Er ist ein ganz wichtiger Teil der Widerstandsbewegung geworden, die das Attentat vom 20. Juli 1944 geplant hat. Für seine unerschütterliche Aufrichtigkeit, für den mutigen Widerstand hat Wilhelm Leuschner dann den höchsten Preis, den man zahlen kann, gezahlt: Er ist hingerichtet worden.
Sein Name steht bis heute für Mut und Haltung. Sein Name steht für unbeugsames Festhalten an Freiheit, für unbeugsames Festhalten an Gerechtigkeit und Würde.
Mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille zeichnen wir Menschen aus, die den Geist Wilhelm Leuschners in unsere Gegenwart tragen und zwar mit Zivilcourage, mit Rückgrat und mit Menschlichkeit.
Menschen wie Margot Friedländer.
Wie viel kann der Mensch ertragen?
Margot Friedländer ist 12 Jahre alt, als Hitler an die Macht kommt. Mit 21 Jahren ist sie komplett auf sich allein gestellt. Der Bruder ist von der Gestapo verhaftet worden und die Mutter ist ihm gefolgt, um ihm beizustehen. 15 Monate lebt Margot Friedländer dann im Berliner Untergrund in ständiger Angst vor Verrat und Entdeckung, angewiesen auf die Hilfe von Fremden; Fremden, die nicht immer nur Gutes mit ihr im Sinn gehabt haben, aber auch Fremde, auch das gehört zur Geschichte dazu, die zu Freunden geworden sind.
Im April 1944 wird Margot Friedländer nach Theresienstadt deportiert. Für sie ein Zwischenreich, nicht Leben, nicht Tod, geprägt von Hunger, geprägt von Schmutz und geprägt von Verzweiflung; ein Zwischenreich, das jeden zu einem Einzelkämpfer macht.
Margot Friedländer schreibt dazu – ich zitiere sie: „Ich sehnte mich nach Mitmenschlichkeit, nach Nähe, aber es fiel mir selbst schwer, beides zuzulassen. Jeder existierte für sich in einer Art Verkapselung. Theresienstadt war ein Vakuum, ein Ort ohne Luft, ohne Licht, ohne Zeit."
Theresienstadt war für sie ein Ort, an dem eine Frage ihr Leben bestimmte: Wieviel kann der Mensch ertragen?
Und sie musste sehr viel ertragen. Sie hat erlebt, was es bedeutet, wenn Menschen sich über andere Menschen erheben. Sie hat erlebt, wie es ist, wenn Menschen andere Menschen verfolgen, wenn sie sie herabwürdigen, wenn sie sie quälen und wenn sie sie ermorden. Sie hat mit ihren eigenen Augen in die tiefsten Abgründe menschlichen Denkens und Handelns geschaut. Und trotzdem hat sie eines nie verloren: ihren Glauben an die Kraft der Menschlichkeit.
Die Kraft der Menschlichkeit
Es ist dieser unerschütterliche Glauben an die Kraft der Menschlichkeit, der sie dann nach 64 Jahren in New York 2009 zurückkehren lässt in ihre Heimatstadt, nach Berlin. Mit fast 90 Jahren wagt sie einen kompletten Neuanfang und beginnt vor allem jungen Menschen, ihre Geschichte zu erzählen. Und zwar nicht laut, nicht bitter, nicht anklagend, sondern sehr klar, auch sehr bestimmt, aber insbesondere ruhig und vor allem zugewandt. Die Worte, die sie gefunden hat, sind eine Einladung, nämlich eine Einladung, genau hinzuschauen, zuzuhören und vor allem auch mitzufühlen. Sie wird zu einer der wichtigsten Mahnerinnen gegen das Vergessen.
Ich möchte sie noch einmal zitieren: „Ich bin zurückgekommen, um mit euch zu sprechen, euch die Hand zu reichen, euch zu bitten, dass ihr die Zeitzeugen werdet, die wir nicht mehr lange sein können. Es ist für euch. Seid Menschen."
Man muss das schon sagen: Was für eine Größe liegt in diesen Worten, was für ein Vertrauen in uns und in unser Land. Und das nach all dem, was diese Frau erleben musste.
Trotz allem glaubte sie nach all dem, was sie erlebt hat, an das Gute im Menschen. Trotz allem glaubte sie an die Möglichkeit der Versöhnung. Trotz allem glaubte sie an ihre Heimat; glaubte sie an Deutschland – aber natürlich an das andere Deutschland, an das bessere Deutschland, an das lernfähige Deutschland, an das empathische Deutschland, an das menschliche Deutschland.
Und man muss die Frage schon stellen: War das naiv? Nein, meine Damen und Herren, es war verdammt mutig. Es war eine sehr mutige und ganz bewusste Entscheidung, Deutschland wieder zu vertrauen; darauf zu vertrauen, dass Menschen ihr zuhören, dass Worte wirken; darauf zu vertrauen, dass Begegnungen verändern und dass im Übrigen eine Generation die nächste lehren kann, wachsam zu sein.
Erinnerung ohne Empathie bleibt leer.
Margot Friedländer wusste, dass Erinnerung ohne Empathie immer leer bleibt. Denn erst dieses Mitfühlen, dieses sich Hineinversetzen in die Opfer, lässt uns alle ja annähernd begreifen, was geschehen ist und warum es auch nie wieder geschehen darf. Und deshalb war es auch so wichtig, vor allem ihr so wichtig, gerade jungen Menschen die Gefühle der Opfer nahezubringen und eine bewusste emotionale Verbindung zu schaffen.
Deswegen freue ich mich ganz besonders, dass heute auch Frankfurter Schülerinnen und Schüler hier sind. Euch allen, Ihnen allen ein ganz herzliches Willkommen. Ich freue mich, dass Sie, dass Ihr da seid, insbesondere deswegen, weil es Margot Friedländer ein Herzensanliegen gewesen ist, dass junge Menschen wie Sie, wie Ihr, es spürt: Das ist nicht nur ein weiteres Kapitel in einem Schulbuch, etwas, das ziemlich lange her ist, das nichts mit einem selbst zu tun hat. Sondern das, was geschehen ist, das betrifft mich. Und es betrifft mich deswegen, weil ich ein Mensch bin.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer je erlebt hat, wie still es in einem Klassenraum wurde, wenn Margot Friedländer gesprochen hat, der weiß, dass ihre Worte Kraft hatten, dass sie eine Kraft hatten, die jenseits aller Geschichtsbücher liegt. Und sie hat uns gezeigt, dass Menschlichkeit in dem Moment beginnt, in dem wir den anderen wirklich sehen, dass die Menschlichkeit in dem Moment beginnt, in dem wir uns berühren lassen von der Geschichte und insbesondere von den Gefühlen unseres Gegenübers.
80 Jahre später – Was haben wir gelernt?
Margot Friedländer starb am 9. Mai 2025, einen Tag nach dem 80. Jahrestag ihrer eigenen Befreiung, der Befreiung des KZ Theresienstadt und dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Meine Damen und Herren, wo stehen wir heute? 80 Jahre nach dem Ende dieser unfassbaren, in deutschem Namen angerichteten Katastrophe. Hat Deutschland, haben wir Menschen daraus gelernt?
Diese Frage stellt sich. Ja, wir haben Denkmäler errichtet. Wir haben Gedenkstätten geschaffen. Wir haben Bildungsprogramme aufgebaut. Wir haben uns auseinandergesetzt mit der Shoah.
Es ist eine Auseinandersetzung, die wir im Übrigen zu einem bedeutenden Teil dem ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer verdanken, unserem letzten Leuschner-Preisträger. Und lügen wir uns nicht in die Tasche: Es ist eine Auseinandersetzung, die nur sehr stockend, teilweise nur sehr widerwillig in Gang gekommen ist.
Und es war der Frankfurter Auschwitzprozess, mit dem Fritz Bauer diese Auseinandersetzung begonnen hat. Er hat die Maßstäbe des Rechts an diese Täter angelegt. Er hat Schluss gemacht mit dem, was hier stattfinden sollte nach dem Krieg: Schluss gemacht mit dem Vergessen und Verdrängen, mit den Vertuschungen, die stattgefunden haben. Er hat die Deutschen gezwungen, hinzusehen – und zwar mit den Maßstäben des Rechts, mit der Kraft des Rechts.
Ja, wir haben viel gelernt in den 80 Jahren. Ich glaube, das darf man schon auch sagen an einem Tag wie heute. Die Demokratie ist stark und die Demokratie ist auch widerstandsfähig geworden. Aber auch das muss man hinzufügen: Sie ist nicht unverwundbar. Sie ist alles andere als selbstverständlich. Und sie ist im Übrigen auch erkämpft worden. Sie ist errungen und verteidigt worden. Und sie ist auch schon einmal verloren worden, weil eben zu wenige bereit gewesen sind, für sie einzustehen.
Gleichgültigkeit ist die größte Gefahr für die Demokratie.
Machen wir uns nichts vor: Heute stehen Demokratie, Frieden und Freiheit so sehr unter Druck, wie seit 80 Jahren nicht mehr. Antisemitische Übergriffe haben dramatisch zugenommen. Rechtsextreme und menschenverachtende Parolen werden offen ausgesprochen – ja, auch in unseren Parlamenten. Linke und rechte Radikale werden zunehmend eine Bedrohung für den liberalen Staat. Wir haben auch ein Problem mit zugewandertem Antisemitismus. Menschen werden bedroht und angegriffen, weil sie anders glauben, weil sie anders aussehen, weil sie anders denken. Und Hass und Hetze werden immer radikaler. Auch das erleben wir.
Und es ist etwas eingetreten, meine sehr geehrten Damen und Herren, das ich vor ein paar Jahren noch für völlig ausgeschlossen gehalten hätte. Nämlich, dass Jüdinnen und Juden uns sagen, sie fürchten sich, sie fühlen sich nicht mehr sicher. Ausgerechnet in Deutschland sagen Jüdinnen und Juden, sie fühlen sich nicht mehr sicher. Ausgerechnet in unserem Land.
Ich hatte jüngst ein Gespräch mit einer jüdischen Freundin, die mir erzählt hat, dass sie ihr Armband mit dem Davidstern nur noch verdeckt trägt. Sie trägt es nur noch verdeckt, weil sie Angst vor Reaktionen hat, wenn der Davidstern an ihrem Armband gesehen wird. Ich muss Ihnen sagen, mich beschämt das und mich schockiert das zutiefst in Deutschland. Ausgerechnet in Deutschland.
Und als wäre das nicht alleine schon schlimm genug, müssen Jüdinnen und Juden auch noch erleben, wie vielen Deutschen es schwerfällt, in schwierigen Zeiten an ihrer Seite zu stehen. Viel zu oft ist ja aus diesem anfangs sehr kraftvollen "Nie wieder", sehr typisch deutsch im Übrigen, ein sehr zaghaftes "Ja, aber" geworden.
Ich finde, ganz besonders alarmierend ist ja nicht nur die Lautstärke des Hasses, das ist alarmierend an sich. Ich finde, und das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen, eines ist fast noch schlimmer: das ist das Schweigen der Mitte. Es ist diese verdammte Gleichgültigkeit.
Auch das gehört zu Wahrheit dazu: Der Holocaust begann nicht mit den Gaskammern. Der Holocaust begann mit dem Wegsehen. Der Holocaust begann mit dem Schweigen. Er begann mit der Gleichgültigkeit, von der ich eben gesprochen habe. Und ich sage Ihnen eines: Es ist die Gleichgültigkeit, die die größte Gefahr für unsere Demokratie ist.
„So hat es damals auch angefangen."
Und ich will Margot Friedländer auch in diesem Zusammenhang zitieren. Sie hat gesagt: „So hat es damals auch angefangen." Das sagte Margot Friedländer immer häufiger. Und sie fügte ein bitteres "Ich bin enttäuscht" hinzu. Sie hat eindringlich gewarnt: "Seid vorsichtig, respektiert Menschen. Das ist doch das Wesentliche."
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Margot Friedländer überlebte den Verlust ihrer gesamten Familie. Sie überlebte Verfolgung, Erniedrigung und Angst. Sie überlebte den Sieg des Hasses über die Menschlichkeit. Sie hätte jedes Recht gehabt, dieser Welt zu misstrauen. Sie hätte jedes Recht gehabt, sich zurückzuziehen, zu schweigen.
Sie hat genau das Gegenteil davon getan. Sie kehrte zurück in das Land der Täter. Sie stellte sich der Erinnerung. Sie schenkte uns ihre Geschichte. Sie schenkte uns ihre Kraft, und zwar mit offenem Herzen, mit vollem Vertrauen, dass wir sie hören und dass wir sie verstehen. Und vor allem, dass wir dann auch danach handeln.
Deswegen will ich umso deutlicher sagen: Ja, das ist eine Schande, wie hemmungslos, insbesondere seit dem 7. Oktober 2023, der Hass gegen Israel und gegen Jüdinnen und Juden auf unseren Straßen und in sozialen Netzwerken ausgelebt wird. Immer häufiger dient doch diese radikale, von Hass getragene Kritik an Israel nur als Vehikel, und zwar nur als Vehikel, um am Ende wieder den allzu vertrauten Judenhass zu transportieren. Ich spreche von diesem Ersatzantisemitismus, der Israel sagt, der aber die Juden meint. Ich kann diese scheinheilige, bösartige Frage auch nicht mehr ertragen, ob man Israel denn nicht kritisieren dürfte. Das ist eine scheinheilige, böse Frage, die gestellt wird, um eben genau das zu tun.
Ich sage, es ist eine Schande, wenn Häuser und Wohnungen mit Davidsternen markiert werden, wenn Synagogen, wenn jüdische Friedhöfe, wenn Gemeindezentren beschmiert und angegriffen werden. Mir schmerzt das Herz, wenn ich sehe, dass jüdische Kinder nur unter Polizeischutz in eine Schule gehen können. Stellen Sie sich einmal vor, was das bedeutet.
Es ist eine Schande, dass Margot Friedländer, diese besondere, diese starke Frau, die so viel Leid erlebt hat, das alles zum Ende ihres Lebens in unserem Land, ausgerechnet in unserem Land, noch einmal mit ansehen musste. Wie oft haben wir versprochen, dass das alles nie wieder geschehen würde, dass wir so etwas nie wieder zulassen würden?
Stattdessen musste sie mit 103 Jahren feststellen – auch hier zitiere ich sie wieder: „Es macht mich sehr traurig. Ich hätte nie gedacht, dass es wieder so kommen würde. Wir sind die, die das erlebt haben. Für uns ist es besonders schwer zu verstehen."
Es gibt immer eine Möglichkeit, das Richtige zu tun.
Margot Friedländer hat lange gegen das Vergessen gekämpft. Sie hat lange für die Menschlichkeit gekämpft. Jetzt kann sie es nicht mehr. Und deswegen, lieber Prof. Dr. Dreinhöfer, bin ich sehr froh, dass ich gleich Ihnen posthum für Margot Friedländer diese Auszeichnung verleihen darf. Ich bin sehr dankbar, dass die wichtige Arbeit in der Margot-Friedländer-Stiftung fortlebt, dass Sie all diese Werte am Leben erhalten und sie weitertragen.
Trotzdem will ich auch das sagen: Wir dürfen nicht auf die Idee kommen, die uns manchmal verlockt, die Verantwortung wieder an die Margot-Friedländer-Stiftung und andere auszulagern. Denn das eigentliche Vermächtnis von Margot Friedländer liegt in uns allen, liegt in der Art, wie wir erinnern, liegt in der Art, wie wir reden, und es liegt in der Art, wie wir handeln. Es liegt an uns, es ist unsere Aufgabe.
Ihre Lebensgeschichte verpflichtet uns dazu, dass wir uns auch selbst hinterfragen: Was tun eigentlich wir dafür? Oder wofür engagieren wir uns eigentlich? Oder wogegen engagieren wir uns eigentlich? Und wie standhaft sind wir eigentlich, wenn Hass laut wird? Wann schalten wir uns in die Diskussion ein, wenn am Stammtisch oder auch im ganz normalen Gespräch diese üblichen, diese bekannten antisemitischen Codes gesagt werden, diese Stereotype wieder stattfinden? Was sagen wir eigentlich? Sagen wir: Stopp, das musst du aufhören, was du da sagst. Überleg, was du sagst? Oder übergehen wir das? Was ist eigentlich das, was wir machen? Und ich frage auch, wie wachsam sind wir, wenn Menschen ausgegrenzt werden? Wie mutig sind wir, wenn es darauf ankommt?
„Seid Menschen!“
Margot Friedländer hat uns gezeigt: Jede und Jeder hat es selbst in der Hand, wie er dem Leben, wie er anderen Menschen begegnet – ob mit Hass, mit Gleichgültigkeit oder mit Menschlichkeit. Man kann das Schlimmste überleben und dennoch daraus etwas Gutes entstehen lassen. Man kann selbst Hass, Gewalt und Herabwürdigung erleben und dennoch menschlich, empathisch und zugewandt bleiben.
Menschen wie Margot Friedländer, wie Fritz Bauer und wie Wilhelm Leuschner haben uns das gezeigt und zeigen uns, dass es immer eine Möglichkeit gibt. Es gibt immer eine Möglichkeit, das Richtige zu tun.
Wissen Sie, Sie müssen in unserem Land nicht einmal ein Held sein, um das Richtige zu tun. Sie mussten damals ein Held sein. Sie mussten damals Dinge auf sich nehmen, die sie gefährdet haben, die sie vielleicht sogar in ihrem Leben gefährdet haben, die ihre Familien gefährdet haben. Heute ist niemand gefährdet, das Richtige zu tun in diesem Land. Es gibt immer eine Möglichkeit, sich für die Menschlichkeit zu entscheiden, und es gibt immer eine Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen.
Gerade in einer Zeit, in der wir erleben, dass Menschen sich ohnmächtig fühlen gegenüber Krieg, gegenüber dem Hass, gegenüber der Spaltung, ist es wichtig, dass wir daran erinnert werden, dass uns auch das Leben von Margot Friedländer daran erinnert: Haltung ist immer möglich. Menschlichkeit hängt nicht von den Umständen ab, sondern von der Entscheidung, von unserer eigenen Entscheidung, wie wir anderen begegnen.
Wir alle tragen Verantwortung dafür, dass Hass und Hetze, dass Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nicht unwidersprochen unsere Gesellschaft spalten kann. Wir tragen diese Verantwortung als Bürgerinnen und Bürger. Wir tragen diese Verantwortung aber vor allem und zuallererst als Menschen, als Menschen, die anderen Menschen – allen anderen Menschen, das will ich sehr deutlich betonen – mit Menschlichkeit, Mitgefühl und Empathie begegnen.
Nie wieder ist eine Haltung. Nie wieder ist aber auch eine tägliche Entscheidung, und zwar eine tägliche Entscheidung von uns allen. Manchmal – ich komme dahin zurück, wo ich angefangen habe – genügen zwei Worte, und zwar die berühmtesten zwei Worte von Margot Friedländer, um genau daran zu erinnern: Seid Menschen.
Herzlichen Dank.